Dienstag, 23. März 2021

Wanderung am 43. Hochzeitstag: Böllweg im Bergischen Land und Heinrich Bölls Mission im Nachkriegsdeutschland

Wanderin am Böllweg Skulpturenweg Much: Licht und Leben, Werner Ratering Flyer Böllweg
 
Traditionell unternehmen wir an unserem Hochzeitstag (in diesem Jahr der 43.!) eine Kurzreise mit Wanderungen und Kulturprogramm. Nachdem aufgrund der COVID-19-Pandemie die Hochzeitstag-Reise bereits im Vorjahr ausfallen musste, trifft uns in diesem Jahr das gleiche Schicksal. Wir bleiben nicht untätig und entscheiden uns trotz eher bescheidenem Wetter für eine Wanderung im Bergischen Land, auf der wir keine Sensationen abhaken, sondern in ländlicher Region kulturhistorischen Spuren jüngerer deutscher Geschichte nachgehen. Unsere Route kombiniert 2 jeweils ca. 12 km lange Wandervorschläge, eine Empfehlung des Kölner Stadt-Anzeigers vom 5.03.2021, Auf den Spuren von Heinrich Böll rund um Much, die teilweise auf dem Böllweg verläuft, den wir komplett einbeziehen. Die Route verlängert sich so auf 16 - 17 km, die wir in 4:10 Std. wandern (brutto 4:40 Std.). 
Zum Dinner freuen wir uns auf ein dank Hochzeitstag und Wanderung doppelt verdientes Take-Away-Menü des Sterne-Restaurants maiBeck, das wir auf der Rückfahrt in der Kölner Altstadt abholen. - Fotoserien: Hochzeitstag-Wanderung - Hochzeitstag-Dinner
 
 
Gedenkstele von Egbert Broerken am Walkweiher Much zur Erinnerung an internierte Juden Skulpturenweg Much: Einzeln aber einsam, Werner Albrecht Wanderin im Wahnbachtal
 
Unsere Wanderung startet in Much am Parkplatz des Einkaufszentrums im Wahnbachtal. Via Fußgängerbrücke überqueren wir den Wahnbach, ein Zufluss der Sieg, und treffen auf das kleine Biotop Walkweiher, an dem mehrere Artefakte sogleich eine Unterbrechung unserer Wanderung motivieren. Das erste Objekt erinnert an monumentales deutsches Unrecht des 20. Jahrhunderts. Am Platz des Biotops befand sich das Reichsarbeitsdienstlager Much, das als Sammellager diente, in dem Juden der Region interniert wurden, um sie von dort zu Vernichtungslagern zu deportieren. Eine vom Bildhauer Egbert Broerken geschaffene Gedenk-Stele bewahrt diese Greuel vor dem Vergessen (General-Anzeiger: Von Much aus fuhren die Juden in den Tod). 2 weitere Objekte gehören zum Mucher Skulpturenweg, die Skulpturengruppe Einzeln aber gemeinsam von Werner Albrecht sowie das Steintor Licht und Leben von Werner Ratering. Nach ausgiebiger Betrachtung beginnt unsere Wanderung entlang des Wahnbachs auf einem Abschnitt des Fernwanderweges Bergischer Weg, der anfangs parallel zu einigen weiteren Themenwegen verläuft (Panoramaweg, Lyrikweg, Familienwanderweg), die wir nach und nach wieder verlassen. Überlagernde und wechselnde Wegemarkierungen sind auf den ersten 1,5 km verwirrend. Wegweiser vermissen wir. Ein auf das Smartphone geladener GPX-Track ist hilfreich.
 

Germana-Kapelle bei Wersch Kölner Wanderin an Tafeln des Böllwegs beim Hotel Fit Wanderweg auf der Oberdreisbacher Höhe im Bergischen Land
 
Nach ca. 1,5 km erreichen wir auf einer Anhöhe bei der Ortschaft Wersch die Germana-Kapelle. Die heilige Germana gilt als Patronin der Hirten. An der Kapelle treffen wir auf den Böllweg, der als Bergischer Weg Nr. 20 durchgehend gut markiert ist. Ca. 600 m weiter befindet sich am Hotel Fit der Start des Böllwegs mit 2 Infotafeln. An 8 Stationen erinnern Infotafeln an den 1972 mit dem Literaturnobelpreis geehrten Schriftsteller Heinrich Böll (1917 - 1985) und an seine Familie sowie an Spuren, die die Familie im Zeitraum 1944 - 1946 im Bergischen Land hinterließ, nachdem ihre Kölner Wohnung im 2. Weltkrieg durch Bomben zerstört war. Heinrich Böll schätzen wir nicht nur als Schriftsteller, sondern insbesondere auch wegen seiner uns sympathischen menschlichen und politischen Haltung. Verlogenheit der Nachkriegszeit erlegte uns hinsichtlich individueller Verstrickungen in Nazi-Politik schwere Hypotheken auf. Heinrich Böll bot als leuchtender Fixstern Orientierung. Während der 1970er Jahre wohnten wir im Kölner Agnes-Viertel in Nachbarschaft der Familie Böll und freuten uns, wenn uns Heinrich Böll mitunter über den Weg lief. - Heinrich Böll Stiftung: Leben und Werk von Heinrich Böll - Eine Chronik
 
Ab ca. 1966 lebten wir über mehr als ein Jahrzehnt in einem als bedrückend und bedrohlich empfundenen angespannten politischen und menschlichen Klima. Einführung von Wehrpflicht, Wiederaufrüstung und NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik, Atomwaffenlager und Bunkerbau in Deutschland, Notstandsgesetze, Radikalenerlass etc. deuteten wir als Hinweise, dass Deutschland in der internationalen politischen Strategie die Rolle einer Aufmarschzone zwischen den Großmacht-Lagern zugewiesen und bei Ausbruch eines damals drohenden 3. Weltkriegs als potentielles Schlachtfeld betrachtet wurde. Der zu dieser Zeit stattfindende Vietnamkrieg vermittelte ein Schreckensszenario, mit dem deutlich wurde, dass unser Vorfahren erneut nichts aus der Geschichte gelernt haben. Während sich die Kriegsgeneration in diese Rolle fügte, verweigerte sich die Nachkriegsgeneration. Zwischen Establishment und Jugend, Eltern und Kindern, herrschte tiefes Misstrauen. Besonders schmerzte, dass unsere eigenen Vorfahren, die den 2. Weltkrieg nur mit viel Glück überlebten (oder mit vermeintlicher Gunst des Himmels), sich pragmatisch-opportunistisch arrangierten. Mit Werteverständnissen unserer Vorfahren waren wir nicht einverstanden und mussten Alternativen entwickeln. 
 
An Schalthebeln der Macht saß die Kriegsgeneration. Große Teile der Jugend etablierten eine eigene, neue Subkultur, die Fronten zwischen der Kriegs- und der Nachkriegsgeneration markierte. Wie der Kampf im Konflikt zwischen den Generationen zu führen sei, mit friedlichen Mitteln oder mit Gewalt und Guerilla-Methoden, war in studentischen Kreisen eine intensiv diskutierte Frage. In, mit und neben dieser Diskussion entwickelten sich die Friedens- und Ostermarsch-Bewegung und eine außerparlamentarische Opposition (APO), von der sich die militant-radikale Splittergruppe der RAF abspaltete. APO, Umweltbewegung und Menschenrechtsbewegung verschmolzen über Zeit und entwickelten mit der politischen Partei Bündnis 90 / Die Grünen eine pragmatische Veränderungsstrategie mittels Durchdringung etablierter politischer Institutionen.
 
Heinrich Böll beschränkte sich nicht auf seine schriftstellerische Arbeit. Er wollte zwischen den Generationen vermitteln. Als Pazifist bewies er Zivilcourage und menschliche Größe, wenn er sich für die Friedensbewegung und für Menschenrechte engagierte, politischen Dissidenten Asyl bot und in der Terrorismus-Diskussion der 1970er-Jahre harten Kollisionen mit der Springer-Presse und konservativen deutschen Kreisen nicht aus dem Weg ging. Als jungen Studenten waren uns Bölls Angst und Wut vertraut. Die Jugend vertraute Heinrich Böll, während das Establishment ihm misstraute. Der Konflikt zwischen der überwiegend von Erinnerungs- und Sprachlosigkeit befallenen Kriegsgeneration und ihren Nachkommen erreichte einen deprimierenden Höhepunkt, als Heinrich Böll 1972 in den Verdacht geriet, mit der RAF zu sympathisieren und Mitgliedern Unterschlupf zu gewähren. Die Springer-Presse organisierte eine Hetz-Kampagne. Am Wohnsitz der Familie fand eine Hausdurchsuchung statt, ohne belastende Indizien zu finden. Mitglieder des Bundestages warfen Böll eine "geistige Mittäterschaft am Terrorismus" vor. Dieses Lehrstück medial getriebener post-faschistischer deutscher Nachkriegskultur empörte und verstörte uns tief und trug zur Zerstörung unseres Vertrauen in westliche Kultur und ihren politischen Institutionen bei. 
 
Heinrich Böll erfuhr internationale Wiedergutmachung, als er im gleichen Jahr mit dem Literaturnobelpreis geehrt wurde. Den Anstoß gab sein Roman Gruppenbild mit Dame (1971), in dem Böll für Außenseiter, Leistungsverweigerer, Aus- und Abgestoßene Partei ergreift. Bölls 1974 erschienene Erzählung, Die verlorene Ehre der Katharina Blum, setzt sich mit der Hetz-Kampagne der Springer-Presse auseinander und wurde zu seiner erfolgreichsten Arbeit. Der Literaturnobelpreis verhinderte nicht, dass Heinrich Böll sowie dessen Erzählung und ihre Verfilmung durch Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta von konservativen politischen Kreisen weiter heftig attackiert wurden. Besonders tat sich dabei der spätere Bundespräsident Karl Carstens (CDU) hervor. Bölls Erzählung hatte er vermutlich nie gelesen, als er ihr vermeintliche Rechtfertigung terroristischer Gewalt vorwarf und Heinrich Böll zur Distanzierung von Terrortätigkeit aufforderte. Wie viele weitere Politiker in hohen und höchsten Ämtern nach 1945 war Carstens ehemals Mitglied der NSDAP. Seine Mitgliedschaft in der NSDAP wurde in einem Entnazifizierungsverfahren geprüft. Die I. Spruchkammer Bremen stellte einen Persilschein aus und befand am 3.06.1948, dass Carstens seine Mitgliedschaft in der NSDAP nie praktizierte, sondern aktiv Widerstand geleistet habe (Wikipedia: Karl Carstens).
 
Annemarie und Heinrich bekannten sich zum christlichen Glauben katholischer Prägung, aber mit der Kirchenpolitik waren sie nicht einverstanden. 1976 traten sie aus der Institution der katholischen Kirche aus. Bestattet wurde Heinrich Böll 1985 auf eigenen Wunsch nach katholischem Ritus, was das nicht zutreffende Gerücht nährte, dass er kurz vor seinem Tod wieder der katholischen Kirche beigetreten sei. Heinrich Bölls Nachlass wird im Kölner Stadtarchiv aufbewahrt. Beim Einsturz des Stadtarchivs am 3.03.2009 wurde der Hauptteil des Nachlasses stark beschädigt oder vernichtet. 
 

Blick von der Oberdreisbacher Höhe über das Bergische Land Rastplatz auf der Oberdreisbacher Höhe Blick über das Bergische Land
 
Ca. 500 m nach dem Hotel Fit verlässt unsere Wanderroute den Böllweg und nimmt einen 1 - 2 km langen lohnenswerten Schlenker über die Oberdreisbacher Höhe. Auf der Höhe laden 2 Bänke zu einer willkommenen Rast ein. Heute müssen wir uns mit wenig Aussicht zufrieden geben, aber das Panorama ist bei besserem Wetter offensichtlich. Eine Wiederholung der Wanderung bei günstigeren Bedingungen ist spontan entschieden.


Rastplatz an Station D des Böllwegs bei Bröl Tafel an Station D des Böllwegs bei Bröl Home baked Rübli-Kuchen

Wir durchqueren das Dorf Berzbach, dessen Technik- & Bauernmuseum pandemiebedingt geschlossen ist. Bauer Peters im Dorf Berzbach versorgte die Familie Böll täglich mit lebensrettender Milch, als diese nach dem Kriegsende zunächst im Pfarrheim Marienfeld einquartiert war, bis ihnen die Familie Franken in Neßhoven eine Wohnung anbot (Kölnische Rundschau: Wo Heinrich Böll den Krieg überlebte). Heinrich hatte das Glück, eine toughe Frau zu treffen, mit der ab 1942 sein Leben teilte. Annemarie Cech (1910 - 2004) war im Alter von 5 Jahren Vollwaise, wuchs in Köln bei Großeltern auf, absolvierte in Köln ein Studium und arbeitete einige Zeit in England als Lehrerin. Annemarie und Heinrich heirateten 1942 und bekamen 1945 das Kind Christoph als erstgeborenen von insgesamt 4 Söhnen. Trotz Milchspende verstarb Christoph 3 Monate nach der Geburt und wurde auf dem Friedhof von Marienfeld bestattet.
 
Annemarie arbeitete zunächst als Lehrerin und später als Übersetzerin englischer Literatur. Sie ermutigte Heinrich zum Schreiben und unterstützte ihn aktiv bei der schriftstellerischen Arbeit. Sie redigierte und lektorierte seine Werke und tippte sie auf der Schreibmaschine. Ihre Übersetzungen englischer Literatur sicherten über Jahre die wirtschaftliche Basis der Familie. Heinrich gab freimütig zu, dass er an Annemeries Übersetzungsarbeiten allenfalls bescheidene Anteile leistete, wenn überhaupt. Trotzdem wurde 1966 nur Heinrich zum Ehrenmitglied des Verbands deutscher Übersetzter ernannt, ein weiteres, patriarchalischer Kultur geschuldetes Armutszeugnis. - WELT: Die Frau, für die die Literatur nur Nebensätze übrig hatte - Heinrich Böll Stiftung: Annemarie Böll (1910 - 2004) - Ein Nachruf
 
Beim Dorf Bröl lädt eine weitere Station des Böllwegs zu einer Rast ein. Unser köstlicher Home baked Rübli-Kuchen versöhnt uns ein wenig mit der hart kontrastierenden und belastend nachwirkenden Geschichte der Familie Böll im Nazi-Deutschland der Nachkriegszeit.
 
 
Wanderin am Restaurant maiBeck maiBeck Dinnerbox Hochzeitstag-Foto  
 
Auf dem Rückweg legen wir einen Stop in der Kölner Altstadt ein, um im Restaurant maiBeck ein für unser Abendprogramm reserviertes Take-Away-Menü abzuholen. - Fotoserie: Take-Away-Menü Hochzeitstag-Dinner

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen