Wanderer, Argonauten und Thru-Hiker

"Alles fließt und nichts bleibt; es gibt nur ein ewiges Werden und Wandeln." (Platon)

In unserer Umtriebigkeit fühlen wir uns den Argonauten verwandt. Wir sind zwar keine "Schnellfahrer" (Argonauten, griechisch Αργοναύτης, wird mit ‚Schnellfahrer‘ übersetzt), sondern eher "Langsamfahrer", weshalb wir das Wandern als eine Art des Reisens besonders lieben. Uns treibt auch kein Auftrag zur Suche nach dem goldenen Vlies, aber wir befinden sehr wohl auf "Suche". Nicht immer, aber häufig, finden wir auch das Gesuchte und treffen auf dem Weg mitunter auf Abenteuer, in denen wir uns bewähren müssen.

In der Regel lässt unsere Selbstwahrnehmung uns als die gleiche Person zurückkehren, die auf die Reise gegangen ist. Lange, fremdartige und intensive Reisen nehmen wir jedoch als so tiefe Einschnitte unserer eigenen Erlebniswelt wahr, dass uns ein Einfluss auf unser Denken, Entscheiden und Handeln bewusst wird. Der Thru-Hiker auf dem Appalachian Trails weiß von sich selbst, dass er nicht als die Person ankommen wird, die auf die Wanderung gegangen ist. Aus dieser Erwartung mag er auch die Motivation für seine Wanderung beziehen. Ist es nicht tatsächlich so, dass uns jede Reise auch verändert, aber Mechanismen unserer Selbstwahrnehmung uns das nicht erkennen lassen bzw. "täuschen"? Ist nicht schließlich die Erlebnisqualität, mit der wir den Wert einer Reise bemessen, auch eine Maßeinheit für die Veränderungsqualität, die eine Reise bewirkt? Sind wir als Reisende nicht schließlich auch "Thru-Hiker"? Ist nicht schließlich "Reise" lediglich eine Metapher für einen Wunsch zur Gestaltung und Veränderung des eigenen Lebens?
Link: Post dieses Blogs zum Appalachian Trail

Auch wenn es uns nicht gelingt, die Größe von "Erlebnisqualität" und die Stärke von "Veränderungsqualität" in objektivierbare Metriken und Algorithmen zu übersetzen, bedeutet das nicht, dass keine Veränderung stattfände. Welche Reaktionen und Emotionen komplexe und vermeintlich identische Reize bei unterschiedlichen Rezipienten anstoßen, ist ohne intime Informationen über die kognitiven und emotionalen Strukturen der Rezipienten für Dritte nicht vorhersagbar. Aus unseren eigenen psychischen und sozialen Erfahrungen wissen wir alle, dass sich über Zeit auch die Organisation der kognitiven und emotionalen Strukturen eines Subjekts verändert und darum Vorhersagbarkeit immer nur unter sehr eng gefassten Bedingungen gilt. Im Alltag übersehen wir das häufig und erfahren dann "Enttäuschung". Wenn es uns gelingt, etwas mehr Distanz zu uns selbst zu entwickeln, erkennen wir, dass wir häufig im Hinblick auf Erwartungen "enttäuscht" sind. Der Fehler liegt i.d.R. eher bei uns. Wir haben ein falsches oder unvollständiges Wissen über Entscheidungsparameter und kommen daher zu falschen Schlussfolgerungen.

Was will dieser Exkurs aussagen? Erlebnisqualität ist nicht wirklich intersubjektiv vermittelbar, sondern nur individuell erfahrbar. Daher ist es auch keine Überraschung, wenn Menschen sich hinsichtlich ihrer Vorlieben, Wünsche und Träume unterscheiden. Und wo das nicht der Fall ist, besteht der dringende Verdacht, dass sich entweder eine erfolgreiche Manipulation durch moderne Massenmedien stattfindet oder gruppendynamische Effekte vorliegen, denen sich niemand konsequent entziehen kann. In beiden Zusammenhängen findet nämlich sowohl eine Gleichschaltung bzw. Synchronisierung von Identifizierungsmerkmalen als auch eine Abgrenzung von Ausschlussmerkmalen statt.

Um Missverständnissen vorzubeugen sei angemerkt, dass hier keine universellen Gesetzmäßigkeiten angesprochen sind, sondern Einstellungen und Handlungsmuster, die im Raum und der Zeit unserer Kultur typisch sind und in anderen Kulturen oder zu einem anderen Zeitpunkt unserer Kultur nicht gelten müssen oder anders ausfallen können. Das Reisen macht Sachverhalte dieser Art sinnlich und auch intellektuell erfahrbar, wenn es gelingt, die eigene ethnozentristische Befangenheit zu erkennen und Interesse für das Neue und Fremde zu entwickeln. Es fällt nicht leicht, die eigenen kulturellen Fesseln ein wenig zu lockern, weshalb auch nur derjenige diese Mühe auf sich nehmen und seine Ressourcen für das Reisen einsetzen wird, dessen Leben das Reisen bereichert.

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